Sie hatten die 70 weit überschritten. Asthmatisch
keuchend schwankten sie in das überfüllte Großraumabteil, den
schweren Koffer hinter sich her schleifend. Der Mann mit seiner ca.
1,80 Meter großen Statur hatte zusätzlich an starkem Übergewicht
zu tragen. Sie (seine Frau?), ebenfalls mit einigen Pfunden zu viel
und deshalb bewegungseingeschränkt, verbreitete eine nervöse
Hektik: "Wo sitzen wir? -- 43 und 45 – (sie schaut auf ihre
Platzkarten) - wo ist das? Schnell, beeil dich, gleich fährt der Zug
wieder an!" Ihre gesamte fahrige Körpersprache drückte leichte
Panik aus. Da die beiden nicht sofort den Überblick hatten,
behinderten sie mit ihren Körpern und dem Gepäck gleich mehrere
Fahrgäste auf einmal.
Endlich! Platz 43 und 45 waren gesichtet, wurden angesteuert - und keuchend und
schwitzend eingenommen, inklusive einer aufwendigen Verstauaktion
einer überdimensionalen Plastiktüte in der Gepäckablage. Für den
Koffer war dort oben kein Platz mehr. Im Übrigen erschien er viel zu
schwer, als dass irgendjemand sich an ihm versuchen wollte. So saß
man erstmal.
Die anderen Fahrgäste, die dieses Szenario genauso
gespannt wie ich verfolgt hatten, entspannten ihre Gesichter und
lehnten sich wieder gemütlich in ihren Sitzgelegenheiten zurück
mit dem Gefühl der Sicherheit, dass der Stress nun ein Ende hatte.
-- 30 Sekunden -- nein 60 Sekunden vergingen. Da erhob sich der
Schwergewichtige erneut stöhnend von seinem Platz (der Sitz war für
ihn etwas zu eng), entledigte sich seiner Jacke (ihm war heiß) und
hatte gleich darauf einer geflüsterten Anweisung seiner Gattin zu
folgen, da er sowieso gerade stand: "Die Tüte! Die Tüte!"
Ach ja, die überladene Plastiktüte. Gerade vor zwei Minuten
verstaut wurde sie nun wieder aus dem Gepäckhalter gehievt. Sie
landete bei der Frau auf dem Schoß. Nach gründlicher Inspektion des
Inhaltes kam ein größeres Vesper-Paket zum Vorschein, gefolgt von
einer Zeitung und zwei Getränkedosen.
Dann: Tüte wieder
verschließen, erneut auf den Gepäckhalter zurück stemmen, endlich
schnaufend seinen Platz einnehmen -- der Mann saß wieder. In der
folgenden Aktion wurde knisternd das Vesper-Paket geöffnet, der
Inhalt gerecht geteilt und zeitungslesend eingenommen. Uff, endlich
Ruhe!
Ein
friedliches Bild:
Zwei Menschen, deren Miteinander sich über viele,
viele Jahre eingespielt zu haben scheint, deren nonverbale Sprache
deutlicher ist als viele Worte es sagen könnten, sitzen nun
nichtsahnend in meinem Blickfeld. Ich kann meine Augen nicht von
ihnen lösen. Und wieder einmal frage ich mich, wie es wohl sein mag,
miteinander alt zu werden:
Da stimmt jeder Handgriff, die Fronten
sind abgesteckt, die Macken des anderen weitgehend toleriert. Jetzt
sitzt man gemeinsam im Zug Richtung Süden. Vielleicht winkt ein
Besuch bei den Kindern und Enkelkindern, vielleicht aber auch eine
schöne Zeit zu Zweit in den Alpen -- als Beobachter weiß ich es
nicht. Jetzt, wo sie endlich sitzen, hat das Leben wieder eine
gewisse Ordnung, die Unsicherheiten der letzten halben Stunde sind
erst mal ausgestanden. Nun scheint es gut zu sein. Oder?
Wir
erreichen Koblenz. Ein kurzer Aufenthalt. Der Zug steht. Der Mann
erhebt sich. Was ist jetzt wieder? Ach so, er will rauchen. Die paar
Minuten Aufenthalt lassen sicher eine kurze Zigarette auf dem
Bahnsteig zu. So verschwindet er eine Zeitlang. Sie, seine Frau,
ergreift inzwischen die Gelegenheit beim Schopfe, um Kontakt mit
einer Gleichaltrigen zu knüpfen.
Der Bahnservice bringt Kaffee. Die
horrenden Preise scheinen die beiden Damen nicht abzuschrecken. Jede
einen Kaffee, bitte. Ja, danke. "Zum Kaffee muss ich immer eine
Kleinigkeit dazu essen. Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?"
(Hatte sie nicht gerade ...?) Die Sitznachbarin ist nicht abgeneigt: "Ach, doppelt geröstete Brotchips mit Paprika-Geschmack! Wie
lecker!" - "Ja, greifen Sie ruhig zu, lassen Sie sich nicht
bitten!"
Die rheinische Frohnatur ist in ihrem Element. Ganz
Gastgeberin, ganz großzügig.
Süß, denke ich. Die beiden Frauen
sind in diesem Großraumabteil die einzigen, die einige kommunikative
Annäherungen wagen. Jeder bekommt es mit, denn ansonsten herrscht hier Schweigen, manchmal unterbrochen vom Geräusch des Umblätterns verschiedener
Zeitschriften oder dem Piepton einer SMS oder WhatsApp auf ein Handy.
Ich bin gespannt: Wie geht's weiter? Welche Themen gibt es noch? Ach ja:
"Wunderbares Reisewetter. Finden Sie nicht auch? Nicht zu heiß,
aber auch kein Regen, sodass man was von der Landschaft sieht ..."
und so plaudert man fröhlich und ungezwungen daher.
'Was
wären wir Menschen ohne Kommunikation?', denke ich. Wie still, wie
einsam wäre der Mensch ohne einen Ansprechpartner. Doch nicht jeder
nutzt die Gelegenheiten. Schweigend sitzen wir ganze Strecken unseres
Lebens nebeneinander, lernen uns weder richtig kennen noch schätzen.
Denn nur die Ansprache an den anderen, das Miteinanderreden schließt
uns einander auf.
Das,
was wir Menschen untereinander schon nicht geregelt bekommen, läuft
auf der Beziehungsebene mit Gott, unserem Vater, oft noch viel
schweigsamer ab. Unsere Sprachlosigkeit macht uns beziehungsunfähig.
Oder ist es umgekehrt? Macht uns unsere Beziehungsunfähigkeit
sprachlos? Wie dem auch sei - wir müssen an einer Stelle beginnen,
diesen Kreislauf zu durchbrechen.
Lernen wir wieder das ungezwungene
Mitteilen, Reden mit unserem Vater im Himmel: "Vater Gott, ist das
Wetter nicht schön? Ich freue mich über die Sonne, über die
Landschaft, die sanft an mir vorbeigleitet. Das Wasser, der Rhein
neben den Bahngleisen sind für mich ein wunderschönes Bild des
Friedens. Leichter Nebel liegt auf dem Wasser. Er signalisiert hohe
Luftfeuchtigkeit. Rechts in den Hängen stehen kleine, hübsche
Häuser, Waldstücke ... Siehst du es auch, Vater?"
Ich
kann die Antwort "hören": "Mein liebes Kind, ich sehe dich und
bin so froh, dass du deine Gedanken mit mir teilst. Darauf muss ich
oft viel zu lange warten. Aber ich warte."
Ich
möchte lernen, viel mehr meine Gedanken mitzuteilen, meinem Vater im
Himmel, aber auch meinen Nächsten. Was für eine Veränderung könnte
geschehen, nicht zuletzt an mir selbst.
"Danke,
Vater, dass ich heute morgen völlig von dir und deiner Liebe
überrascht worden bin. Du hast -- so sehe ich es -- diese beiden
Menschen in dieses Abteil geschickt, um meine Gedanken auf dich zu
lenken und zu mir reden zu können. Danke für deinen Humor! Und für
das Hören deiner Stimme."
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